Besinnlich

Ein anderes: Herbsttag, von Rainer Maria Rilke:
Herr: es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
Und auf den Fluren  Laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie bis zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein. 

Wer jetzt kein Haus hat,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wir wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

„Herbsttag“ geschrieben Ende September des Jahres 1902.
Herr, es ist Zeit. Es nun Zeit für den Herbst. Rilke war im September 1902 voll von Sonne und Leben, er sehnte sich nach Veränderung, nach Schatten und Wind. Kindlich fast wirkt das Bild, das er in diesen Zeilen von Gott malt. Gott legt seinen Schatten auf die Sonnenuhren und läßt die Winde los, hält sie nicht mehr zurück. Gott legt selbst Hand an. In Gottes Hand liegt es: Schatten wird sein, wo Licht war und Wind und Unruhe träges Sonnenflimmern ablösen.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein. 

Herbst soll werden. Herbst, das ist der Beginn einer ruhigeren Jahreszeit. Die Ernte ist eingebracht – das haben wir gefeiert in unseren Kirchen. Der Herbst ist eine reiche Zeit. Reich auch an Farben, die beginnende Laubfärbung erinnert uns daran, wieviel Schattierungen Bäume an einem sonnigen Herbstttag zeigen.  „Goldener Herbst“ sagen wir ja auch. Äpfel sind reif und Birnen. Die Trauben sind süß, vollgesogen mit Sonne. Überall kann man jetzt Federweißen kaufen – Wein: süß und schwer. Rilke spricht von Vollendung in diesen Zeilen. Gott soll sein sommerliches Werk vollenden; er soll die letzten Früchte reifen lassen unter den letzten Sommerstrahlen.

Wer jetzt kein Haus hat,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Das sommerliche Werk ist vollbracht. Und – wer sich auf den Herbstanfang nicht rechtzeitig eingestellt hat, für den ist der Zug nun abgefahren. Der wird lange unbehaust und allein bleiben. Der vorher in dem Gedicht so schön beschriebene „goldene Herbst“ wird auf einmal ganz ungemütlich. Die Atmosphäre des Gedichts verändert sich. Auch Reiner Maria Rilkes Situation im Herbst des Jahres 1902 war ungemütlich. Er hatte kein festes Einkommen, seine Ehe war zerbrochen, der gemeinsame Haushalt aufgelöst und er mußte allein von Hotel zu Hotel ziehen. So beschreibt er hier in diesem Gedicht auch seine Situation: unbehaust war er, allein, und hat das getan, was manche von uns vielleicht auch tun, wenn sie allein sind: lesen, spazierengehen, schreiben.
Doch – frage ich mich, wie weit gilt uns auch dieses Gedicht.
Ist Rilkes „Herbstttag“ auch mein oder ihr Herbsttag? Bleiben wir stehen in Einsamkeit, in Heimatlosigkeit? Und treffen dann auf Rilke, wenn wir allein die herbstlichen Alleen entlang wandern?

„Unsere Heimat ist im Himmel“ heißt es im Philipperbrief, im 3. Kapitel.
„Unsere Heimat ist in Himmel“ – diese Worte begegnen uns v.a. im Zusammenhang mit dem Tod, auf Beerdigungen wird dieser Vers gern gesprochen. Das heißt dann:  Der Tote/ die Tote ist aufgehoben in den mächtigen und barmherzigen Händen unseres Gottes. Er oder sie sind nun angekommen, zu Hause, geborgen bei ihm.

Doch gilt diese Botschaft auch uns Lebenden.  Uns allen wird gesagt: „Ihr habt Heimatrecht an dem Ort, den wir Himmel nennen.“ Wir Lebenden werden zusammen gesehen, zusammengeschlossen mit den Toten. Unser aller Heimat ist bei Gott. Unser irdisches Leben, unser vom Tod begrenztes Leben hat nicht das Ziel des Todes. Wir haben ein anderes Ziel. Wir gehen in diesem Leben dem Versprechen Gottes entgegen, das der Tod nicht das letzte Wort hat. Daß wir ein neues Leben haben.

Ein Leben ohne Erdenschwere, ohne Endlichkeit, ohne Trauer, Verlust, ohne Krankheit, ohne Schmerz hat Gott uns  versprochen. Eine neue, eine wirkliche Heimat. Die wir nicht verlassen, aus der wir nicht fliehen müssen. Das  ist eine Erfahrung, die bestimmend wird für das ganze Leben, egal wir lange die Flucht zurückliegt. Da bleibt die Angst, daß es einem so geht wie dem Mann, der unter die Räuber fiel, als er seine Heimat verließ und sich auf den Weg machte. Heimatverlust schafft große Unsicherheit. Das hat auch Rilke so erlebt. Heimat verlieren, das heißt nicht immer: das Haus, der Ort, das Land verlieren. Das kann auch heißen: einen Menschen verlieren durch Tod oder so, wie Rilke es erlebt hat. Weil man sich auseinandergelebt hat, weil es gemeinsam nicht mehr geht.

Heimat verlieren heißt wohl immer: den Boden unter den Füßen zu verlieren, sich wieder ganz neu  orientieren müssen. Ein neues Fundament legen – für ein neues Haus, ein neues Leben. Ein neues Fundament legen mit der Hoffnung, daß dieser Ort, dieser Mensch, diese Menschen nun auch Heimat bleiben mögen und nicht wieder verloren gehen. Aber sicher ist das nicht – in dieser Welt. Jesus ging es da auch nicht viel anders. Es ist uns überliefert, daß er gesagt hat: „ Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ Der Menschensohn ist unbehaust, so steht es im Matthäusevangelium, im 8. Kapitel. Jesus hat diese Heimatlosigkeit in der Welt ausgehalten, weil er um seine Heimat bei seinem Vater, bei Gott wußte.

Wir sind nicht Jesus. Unsicherheiten auszuhalten ist sehr schwer. Die meisten von uns bauen ihre Nester und hängen auch sehr an diesen. Der Gedanke, sie zu verlieren, verlassen zu müssen, fällt schwer. „Unsere Heimat ist im Himmel.“ Das heißt: auch wenn wir uns für dieses Leben, in dieser Welt sehr an vorübergehende Heimaten binden, so steht die wahre Heimat noch aus. Vielleicht kann uns das hier ein wenig beruhigter sein lassen.

Als Christin möchte ich Rilkes Gedicht eine weitere Strophe hinzufügen, nicht stehen bleiben in herbstlicher Melancholie. Diese neue Strophe würde erzählen vom Haus Gottes, das warm ist und hell, dessen Tür uns immer offen steht. Wenn es nun bald dunkler wird, die Tage kürzer werden und sich der  graue Nebel und der Regen vielleicht auf unsere Seelen legt, dann sagt Gott: Du bist nicht allein auf dieser Welt. Ich bin dein Begleiter, wenn es ungemütlich wird, du einsam bist, den Boden unter den Füßen verlierst, wenn du deine Heimat suchst. Gott wandert dann mit uns durch die Alleen, er hält unsere Hand.

Amen.